Wenige Tage später ereignete sich etwas ähnlich Erschütterndes in der Gegend von Hannover: Es ist zu vermuten, dass eine Mutter ihre beiden Kinder und sich selbst getötet hat, nachdem sie zuerst ihren Ehemann umgebracht hatte, von dem sie wohl getrennt lebte. Die Toten wurden am Dienstag, den 24.11.2015 gefunden.
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Bei den getöteten Geschwisterpaaren handelte es sich in beiden Fällen jeweils um einen Jungen und ein Mädchen, in Wolfartsweier um 11jährige Zwillinge, in Norddeutschland um ein 3jähriges Mädchen und ihren 9jährigen Bruder.

In beiden Fällen halten sich die Ermittlungsbehörden noch bedeckt, sodass wir über die Medien bisher nur wenige sichere Erkenntnisse erhalten können, was die persönlichen Verhältnisse der Toten, Details der Tat sowie die Hintergründe betrifft. Es bleibt auch fraglich, ob die Öffentlichkeit irgendwann viel mehr erfahren wird: Da im einen Fall der mutmaßliche Täter und im anderen Fall die mutmaßliche Täterin tot ist, steht zu erwarten, dass die Ermittlungsbehörden ihre Untersuchungen irgendwann einstellen werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass ein Verschulden Dritter nicht nachweisbar ist.

Gibt bereits jetzt jemand Bewertungen ab, offenbart er dadurch – mangels wirklich belastbarer Fakten – mehr über sich selbst als über die menschlichen Tragödien, die sich in beiden Familien abgespielt haben müssen. Aber auch das kann sehr aufschlussreich sein:

Es ist Brauch in den deutschen Medien, einen Täter, solange er noch nicht rechtskräftig verurteilt ist, als mutmaßlichen Täter zu bezeichnen. Dies hat Herr Theo Westermann offenbar nicht nötig: Am 28.11.2015 schreibt er in den Badischen Neuesten Nachrichten einen ausführlichen Kommentar zu dem Geschehen in Wolfartsweier, in welchem er die Tat als „Das Böse nebenan“ und mehrmals als „Rachefeldzug“ bezeichnet. Auf das Wort „mutmaßlich“ verzichtet er: Der Mann ist ja tot und kann sich sowieso nicht mehr wehren, und außerdem handelt es sich ja um einen Vater: „Kommt es zu Sorgerechtsstreitigkeiten, beobachtet man aber am Karlsruher Amtsgericht eine Zunahme an in ihren Reaktionen unkalkulierbaren Männern“.

Anders in Laatzen bei Hannover: Dort lautet der Kommentar des Bürgermeisters: „Es ist schrecklich, wenn Menschen keinen anderen Ausweg mehr sehen.“ Da schwingt bei aller Betroffenheit über die „Tragik einer solchen Tat“ eine gewisse Empathie für die mutmaßliche Täterin mit.
Ist dieser Bürgermeister einfach nur sensibler für komplexe menschliche Verstrickungen als jener Karlsruher Journalist, oder ist dieser Unterschied der Bewertungen symptomatisch für mehr?

Schon mehrmals habe ich über Mütter, die ihre Kinder getötet haben, ungefähr Folgendes gelesen: „Wie verzweifelt musste diese Mutter gewesen sein, dass sie diesen Schritt getan hat?“ Über einen Vater habe ich solch eine Äußerung noch nirgends entdeckt.
Immer noch ist die Meinung weit verbreitet: Kinder gehören zur Mutter, und im Zweifelsfall ist die Mutter liebevoll, der getrennt lebende Vater nur ein gewalttätiger Störenfried; die Mutter ist von Natur aus gut, der Vater von Natur aus böse. Tut eine Mutter doch mal ihren Kindern etwas an, so wird davon ausgegangen, dass sie entweder verzweifelt (und somit eigentlich der Vater der wahre Schuldige) war, oder eben psychisch krank. Tut ein Vater dasselbe, so ist er die Verkörperung des Bösen, unberechenbar, schon vom Grundansatz her eine Gefährdung für seine Kinder.

Kann es nicht sein, dass oftmals gerade diese Schere in den Köpfen von so vielen in unserem Lande die tiefere Ursache für solche Wahnsinnstaten bildet? Dass sich viele Mütter einfach überfordert fühlen, diesen übersteigerten Erwartungen an Mütter gerecht zu werden? Und dass viele Väter daran verzweifeln, dass sie aufgrund oftmals ungerechtfertigter Vorverurteilungen von ihren Kindern zu deren Nachteil getrennt werden?

Schreckliche menschliche Entgleisungen werden sich nie ganz vermeiden lassen. Wir sollten uns aber bemühen, uns bei der Beurteilung solcher Tragödien nicht durch vorgefasste Meinungen täuschen zu lassen. Gerade in einem Lande, das doch offiziell so große Stücke auf Geschlechtergerechtigkeit hält, sollten wir uns darum bemühen, Mütter und Väter gleichermaßen gerecht zu beurteilen. Oder sollte Geschlechtergerechtigkeit nur etwas wert sein, wenn sie zugunsten der Frauen ausfällt?


Zusatz von Franzjörg Krieg

In Karlsruhe wird derzeit an einer Untersuchung gearbeitet, die die Möglichkeit hat, solche Fälle mit ihren Hintergründen zu beleuchten.
Man darf gespannt sein, ob dies gelingen wird.
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