Ayse und Fatih sind türkischstämmig und geschieden. Ihr 13-jähriger Sohn Mehmet wohnt bei der Mutter. Aufgrund eines tragischen Todesfalles in ihrem sozialen Umfeld vernachlässigt die Mutter ihre Erziehungsbemühungen und überlässt Mehmet einen Freiheitsspielraum, der dazu führt, dass dessen Leistungsabfall und Schulschwänzerei von der Schule ans Jugendamt gemeldet werden. Dieses holt Mehmet aus dem Haushalt der Mutter und überführt ihn in eine deutsche Bereitschaftspflege. Die Lösung des Jugendamtes: Mehmet soll etwa 100 km entfernt für 2,5 Jahre in eine betreute Wohngruppe. Der Platz ist schon für ihn reserviert.

Diese Lösung bedeutet, dass Mehmet seinen Eltern in einem wichtigen Alter der eigenen Persönlichkeitsfindung weitgehend entfremdet wird, dass eine Rückführung des danach 16-Jährigen in die (Nachtrennungs-)Familie nicht mehr wahrscheinlich ist und dass diese Maßnahme den Steuerzahler etwa 200.000 Euro kosten wird.

Wünschenswert wäre gewesen, dass das Problem früher erkannt worden wäre, dass die Mutter in einen Beratungsprozess eingebunden und im Erziehungsprozess im Haushalt durch eine Aufsuchende Familientherapie (AFT) unterstützt worden wäre. Damit hätte es eine Lösung gegeben, ohne dass es zu einer Herausnahme hätte kommen müssen.

Nach der Herausnahme von Mehmet hätte die geballte Professionalität der familialen Intervention (Jugendamt, Beratungsstellen, Therapeuten, Familienhilfe, etc.) eine deeskalative Lösung anstreben müssen, um den Supergau einer Heimunterbringung nach Möglichkeit zu verhindern. Stattdessen war dieser Supergau die einzige vom Jugendamt präferierte Maßnahme.

Die deeskalative Lösung kam ausgerechnet vom „Väteraufbruch für Kinder Karlsruhe e.V.“, der einzigen mit keinem öffentlichen Cent geförderten Beratungseinrichtung in Karlsruhe mit über 10 Jahren Kontinuität und wöchentlichen öffentlichen Beratungstreffen mit durchschnittlich 13 Anwesenden.

Das Problem lag – wie in den meisten Fällen von nicht bzw. mangelhaft beratenen Nachtrennungsfamilien – in der desolaten Kommunikation der Eltern. Nach einigen Mediationssitzungen mit Ayse und Fatih waren diese in der Lage, eine Lösung der Situation im Interesse ihres Kindes gemeinsam anzugehen. Innerhalb weniger Wochen kristallisierte sich heraus, dass eine Rückführung zur Mutter schon bald möglich sein wird. Diese deeskalative Lösung wird durch den glücklichen Umstand unterstützt, dass der Pflegevater eine hohe Erziehungskompetenz besitzt.

Warum konnte die aus Steuergeldern finanzierte hoch kompetente Fachszene nicht schon im Ansatz eine deeskalative Lösung anstreben? Warum musste dieser Impuls von außen kommen? Warum bedurfte es der gewachsenen ehrenamtlichen Professionalität einer Selbsthilfeorganisation, die sogar den Raum selbst bezahlt, in dem sie in den letzten Jahren schon für weit über 6000 Anwesende Beratung kostenfrei angeboten hat?


Ahmed ist Syrer, der seine syrische Frau auch in Syrien heiratete. Inzwischen wohnen sie schon lange in Deutschland. Seine Frau betrieb die Trennung, behielt die beiden Kinder bei sich und ist dabei, sich auch in ihrem Äußeren einem mitteleuropäischen Frauenbild anzunähern.

Ahmed hat große Probleme mit den Institutionen der familialen Intervention, vom Jugendamt bis zum Familiengericht. Er hat sich entschieden, nie mehr in Deutschland vor einem Familiengericht erscheinen zu müssen und versucht, in der Beziehung zu seiner getrennt lebenden Frau mit Vernunft vorzugehen. Diese aber ist einer vernünftigen Verhaltensweise nicht zugänglich und genießt die Macht, die sie mit der Verfügungsgewalt über die Kinder auf den Vater ausüben kann. Obwohl die Kinder Kontakt mit dem Vater wollen und brauchen, wird dieser auch durch das Jugendamt und die sonstigen Helfersysteme nicht möglich gemacht.

In der Kommunikation mit dem Vater zeigt sich, dass nicht nur die Sprache ein Problem ist. Wenn Ahmed sagt, er liebe seine Frau immer noch, meint er im Grunde genau das, was die familiale Intervention von ihm fordert: Er achtet sie als die Frau, die er zur Mutter seiner Kinder machte. Die Sachbearbeiterin beim Jugendamt versteht aber, dass er sich noch nicht mit der Trennung abgefunden hat und jetzt als typischer Muslim eine Möglichkeit sucht, weiterhin Macht und Kontrolle über die Mutter auszuüben. Mit dieser Feststellung stellt sie aber die tatsächlichen Zusammenhänge auf den Kopf.
Darüber hinaus ist Ahmed unserem System der Behandlung von Problemen nach Trennung mit Kindern hilflos ausgeliefert. Wenn schon ein deutscher Vater, selbst wenn er über juristisches Fachwissen verfügt, nicht verstehen kann, was in einem solchen Fall abläuft, welche Chance hat dann ein muslimischer Syrer?

Es gibt aber allenfalls bei der Verhandlung vor dem Familiengericht einen Dolmetscher für die Sprache. An eine „Übersetzung“ der gewaltigen kulturellen und systemimmanenten Unterschiede ist nicht gedacht. Es gibt keine professionelle Unterstützung für Betroffene mit Migrationshintergrund, die es ihnen erleichtert, sich in der deutschen Familienrechtspraxis zurecht zu finden und adäquat zu verhalten, die im europäischen Vergleich teilweise absurde Eigentümlichkeiten aufweist und immer wieder vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig verurteilt wird.

Diese Eigentümlichkeiten haben inzwischen im Kontext deutsch-polnischer und deutsch-französischer Familienrechtsfälle Deutschland den Ruf einer neuen Bemühung um „Germanisierung“ eingebracht.


In Hamburg lud der Türkische Elternbund (HTVB) am 17.05.2013 zu einer Diskussionsveranstaltung ein, der die provokante Frage „Jugendamt – wirklich zum Wohle des Kindes?“ zugrunde lag. Seit 2007 ist die Zahl der vom Jugendamt in Obhut genommenen Kinder um fast 40 Prozent gestiegen. Und immer wieder sind auch Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund Ziel der Herausnahmen. Weil diese dann in deutsche Pflegefamilien kommen und damit ihrem Kulturkreis vollkommen entzogen werden, spricht der Türkische Elternbund von einer „Zwangsgermanisierung“.

Im binationalen Kontext wurde dieser Vorwurf ebenfalls schon erhoben, weil z. B. polnische Väter im Begleiteten Umgang in Deutschland gezwungen wurden, mit ihrem Kind ausschließlich deutsch zu sprechen.

Zwischen Deutschland und Frankreich gab es schon einmal eine binationale Clearing-Gruppe, die Probleme im Bereich von zwischenstaatlichen Familienrechtsfällen behandelte und dem Vorwurf nachging, dass Deutschland den Drang hatte, Mütter und deren Kinder von ihren französischen Vätern fernzuhalten und damit diese Kinder zu vereinnahmen.


Dazu auch:
http://www.taz.de/Diskurs-um-Kinderschutz/!116547/
Türkische Eltern wehren sich